«Eltern sollten ihr Kind in keine Geschlechterrolle drängen»

Spätestens mit Nemo erreichte das Thema geschlechtliche Orientierung die breite Öffentlichkeit. Doch neu ist es nicht. Was ist für heutige Jugendliche anders?
Dagmar Pauli: Geschlechtsinkongruenz ist heute sichtbarer. Dadurch gibt es auch viel mehr Betroffene, die sich outen. Früher war die eigene Geschlechtsidentität eine Sache, die jede Person mit sich selbst ausgemacht hat. Heute wird dieser Prozess mehr nach aussen getragen. Das hat zur Folge, dass mehr Jugendliche sich fragen, ob ihre Geschlechtsidentität dem biologischen Geschlecht entspricht. Es gibt auch Erwachsene, die sich erst jetzt durch die mediale Aufmerksamkeit ihrer Geschlechtsinkongruenz so richtig bewusst werden. Viele haben es zwar schon länger gespürt, können es aber erst jetzt in Worte fassen.
Gibt es Zahlen, wie viele Menschen sich als transgender oder non-binär wahrnehmen?
Dagmar Pauli: In westlichen Ländern sind es zwischen drei und fünf Prozent, die ihre Geschlechtsidentität hinterfragen. Der Anteil an Menschen, die sich als transgender identifizieren und tatsächlich eine medizinische Behandlung in Betracht ziehen, liegt aber weit unter einem Prozent. Viel stärker verbreitet ist die Geschlechtsvarianz, also dass Personen den Wunsch verspüren, in einer anderen Rolle zu sein. Sie möchten sich nicht durch die Kategorisierung weiblich und männlich einengen lassen.
Zur Person:
Dagmar Pauli ist stellvertretende Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Dort leitet sie unter anderem die Sprechstunde zum Thema Geschlechtsinkongruenz, wo sie Kinder und Jugendliche sowie ihre Eltern zu Fragen betreffend Geschlechtsidentität berät. Dagmar Pauli hat drei erwachsene Kinder und engagiert sich ehrenamtlich als Stiftungsrätin bei Pro Juventute.

In welchem Alter spüren Kinder erstmals, dass sie sich nicht ihrem biologischen Geschlecht zugehörig fühlen?
Dagmar Pauli: Wenn man Erwachsene trans Personen fragt, ist einigen bereits mit rund vier oder fünf Jahren bewusst geworden, dass ihre Geschlechtszuordnung nicht stimmt. Andere spürten erst mit Beginn der Pubertät, dass sie anders sind als ihr Umfeld sie wahrnimmt. Häufig wächst in dieser Zeit das starke Unwohlsein mit den körperlichen Geschlechtsmerkmalen. Manche werden sich ihrer Geschlechtsinkongruenz auch erst im späteren Erwachsenenleben bewusst, beispielsweise aufgrund einer Doku oder Erzählungen. Geschlechtsinkongruenz kann sich also in jedem Alter zeigen.
Wie sollen sich Eltern verhalten, wenn jüngere Kinder den Wunsch äussern, dem anderen Geschlecht anzugehören?
Dagmar Pauli: Gegenüber jüngeren Kindern empfehle ich eine grosse Offenheit. Eltern sollten ihr Kind nicht einengen und in keine Geschlechterrolle drängen. Das heisst auch, keine Schlussfolgerung zu ziehen, dass das Kind später trans sein wird, nur weil es beispielsweise geschlechtsatypische Vorlieben hat. Es kann sich trotzdem wohl in seinem Geschlecht fühlen. Ich plädiere sehr dafür, dass wir als Gesellschaft offener werden, mit einem breiteren Rollenverständnis und mehr Vielfalt. Dann könnten sich Kinder auch so verhalten, wie sie es möchten, ohne sich in ihrer Geschlechtszuordnung eingeengt zu fühlen.
Sollen Eltern ihr Kind gewähren lassen, wenn es mit einem anderen Namen angesprochen werden möchte?
Dagmar Pauli: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es hilfreich ist, nicht mit Abwehr zu reagieren, sondern mit Neugier. Die Eltern sollen das Kind fragen, warum es das möchte und wie es ihm geht. Bei manchen Kindern ist es ein Spiel, eine vorübergehende Idee. Damit können Eltern auch spielerisch umgehen und das Kind ausprobieren lassen. Das muss nichts mit transgender zu tun haben.
Ich plädiere sehr dafür, dass wir als Gesellschaft offener werden, mit einem breiteren Rollenverständnis und mehr Vielfalt.
Und was, wenn es mehr als ein Spiel ist?
Einige wenige Kinder fühlen sich dauerhaft unwohl mit der Geschlechtszuordnung, Sie beginnen, darunter zu leiden und es geht ihnen zusehends schlechter. Den Eltern empfehle ich, sich in einem solchen Fall beraten zu lassen und eventuell ihr Kind zu unterstützen, dass eine sogenannte soziale Transition vom Umfeld, Kindergarten und Schule umgesetzt wird. Eine soziale Transition bedeutet, dass diese Kinder mit anderem Namen und anderen Pronomen angesprochen werden. Aber auch dann sollen Eltern die Offenheit behalten und nicht davon ausgehen, dass das Kind sicher dauerhaft trans ist. Mit Beginn der Pubertät kann sich die Geschlechtsordnung nochmals ändern.
Im Kindesalter gilt also: keine engen Geschlechterrollen vorschreiben und keine voreiligen Schlussfolgerungen ziehen. Wenn ich von meinem Kind erwarte, dass es seine Verhaltensweisen den bestehenden Kategorien anpasst, dann kann dies das Selbstwertgefühl des Kindes schädigen.
Wie wirkt sich die Pubertät auf die Geschlechtsidentität aus?
Dagmar Pauli: Es gibt jene, die sich schon länger unwohl in ihrer Rolle fühlten. Mit Eintritt der Pubertät nimmt bei einigen der Leidensdruck stark zu. Betroffene Jugendliche haben Angst, stärker weiblich oder noch männlicher zu werden. Bei anderen beginnt der Leidensdruck überhaupt erst in der Pubertät. Doch müssen wir vorsichtig sein. Denn es gibt auch viele Jugendliche, die bezüglich ihrer Geschlechtsidentität vorübergehend unsicher sind. Dieses allgemeine Unwohlsein mit dem Körper darf nicht zu vorschnellen Schlüssen führen. Die Jugendlichen müssen gut begleitet werden, um zu sehen, ob es in Richtung einer dauerhaften Geschlechtsinkongruenz geht oder es eine vorübergehende Phase der Unsicherheit ist.
Sie bieten in der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich Sprechstunden zum Thema Geschlechtsinkongruenz für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern. Welche Fragen haben die Eltern?
Dagmar Pauli: Zu uns in die Sprechstunde kommen jene Betroffenen, die unter hohem Druck stehen. Da gibt es Eltern, die primär Informationen über medizinische Behandlungsmöglichkeiten wünschen. Andere Eltern haben grosse Angst, sich auf das Thema einzulassen. Sie stellen Fragen wie, ‹Ist es möglich, ein glückliches Leben zu führen, wenn man transgender ist?› Oft werde ich auch gefragt, ob die Geschlechtsinkongruenz dauerhaft ist oder ob sich das noch ändert. Besonders, wenn sich diese nicht schon immer zeigte, sind Eltern unsicher, inwiefern sie auf die Wünsche der Jugendlichen eingehen sollen oder besser nicht.
Was raten Sie Eltern, die dem Thema Geschlechtsinkongruenz gegenüber unsicher sind oder bei denen es vielleicht auch Befremden auslöst?
Dagmar Pauli: Das ging auch mir ursprünglich so. Mein Tipp ist, sich zu öffnen und Interesse zu zeigen. Eltern sollten Respekt vor den Äusserungen und dem Geschlechtsausdruck ihres Kindes haben und dessen Geschlechtsidentität nicht einfach pauschal ablehnen. Manche Eltern vermuten, dass ihr Kind durch das Internet oder Peers fehlgeleitet ist und sich deshalb vorübergehend als transgender identifiziert. Sie sind besorgt, dass sie mit einer Anerkennung der aktuellen Transidentität ihre jugendlichen Kinder darin bestärken könnten. Im Gegenteil ist es aber häufig so, dass eine pauschale Ablehnung durch die Eltern den Prozess des Nachdenkens beim Kind verhindert, weil es den Eltern «beweisen» will, dass es trans ist.
Eltern dürfen nicht über die Identität des Kindes bestimmen. Identität ist sehr subjektiv.
Man darf es dem Kind natürlich sagen, wenn man es nicht versteht oder das Thema Befremden auslöst. Man muss es nicht toll finden und darf auch über eigene Sorgen sprechen. Viele Kinder schätzen das sehr. Wichtig: Eltern dürfen nicht über die Identität des Kindes bestimmen. Identität ist sehr subjektiv. Wenn Eltern merken, dass sie Schwierigkeiten damit haben, rate ich ihnen, sich zu informieren, sich beraten zu lassen und sich mit anderen betroffenen Eltern auszutauschen.
Dagmar Pauli fördert mit ihrem Buch «Die anderen Geschlechter – Nicht-Binarität und (ganz) trans* normale Sachen» den Austausch zwischen den Generationen. Das Buch greift die relevanten Fragen zur Genderthematik auf und sucht zusammen mit jungen und diversen Menschen nach Antworten. Damit kann es Eltern und Jugendlichen helfen, den notwendigen Dialog zu führen.
Wie wichtig ist es für die Kinder und Jugendlichen, ihre Eltern hinter sich zu haben?
Dagmar Pauli: Der Support vom Umfeld ist sehr wichtig. Fehlt dieser, wächst das Kind mit dem Gedanken auf, dass es falsch ist. Das führt zu einem niedrigen Selbstwertgefühl. Zudem können Folgestörungen auftreten: Angststörungen, Depressionen, Rückzug bis hin zu Suizidalität. Wir wissen, dass Menschen aus der LGBTQ-Community ein deutlich höheres Suizidrisiko haben. Der Support vom Umfeld ist der proaktivste Schutz. Support heisst: Ich höre dir zu. Ich nehme dich ernst. Wir finden gemeinsam einen Weg. Support muss nicht heissen, dass gleich eine medizinische Behandlung erfolgt.
Falls doch eine Behandlung gewünscht ist: Wann erfolgt eine solche frühestens und was sind mögliche Eingriffe?
Dagmar Pauli: Die belasteten Kinder und Jugendlichen erhalten in jedem Fall psychologische Unterstützung. Bei uns erfolgt eine medizinische Behandlung nur in Fällen mit hohem Leidensdruck und erst nach Beginn der Pubertät. Man will immer die Pubertätsentwicklung abwarten, um zu schauen, ob sich bezüglich Geschlechtsidentität noch etwas verändert.
Wir nehmen uns viel Zeit für den Abklärungsprozess und nehmen die Eltern mit an Bord.
Um mehr Zeit zu gewinnen wird zuerst die Pubertät blockiert, etwa wenn der Stimmbruch bevorsteht oder die Brustentwicklung angefangen hat. Geschlechtsangleichende Hormone verschreiben wir bei Minderjährigen nur, wenn das Leiden sehr gross und die Geschlechtsinkongruenz klar stabil ist. Wir nehmen uns viel Zeit für den Abklärungsprozess, begleiten jeden einzelnen Fall mit grösstmögliche Sorgfalt und nehmen die Eltern mit an Bord. Denn der elterliche Support ist das Wichtigste!
Zum Schluss: Hat der Hype um Intergeschlechtlichkeit und Geschlechtsinkongruenz auch Schattenseiten für Betroffene?
Dagmar Pauli: Meiner Ansicht nach wird im Moment zu viel Aufregung um dieses Thema gemacht. Es ist ja immer noch ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung von unter einem Prozent davon betroffen. Und auch wenn es für geschlechtsinkongruente Menschen heute einfacher geworden ist, zu ihrer Geschlechtsidentität zu stehen, müssen sich einige auch ständig rechtfertigen, weil Leute denken, dass sie es nur auf Social Media aufgeschnappt haben. Die Jugendlichen leiden auch sehr unter der aktuellen Polarisierung rund um die Thematik. Viele schildern, dass die Ablehnung in letzter Zeit zugenommen hat. Manche Personen machen sich ein Urteil, ohne mit den Menschen zu sprechen, die in der Thematik drinstecken. Man sollte den Menschen zuhören und sie fragen, wie es ihnen selbst geht.
Unterstützung für Betroffene
Eltern mit jüngeren Kindern, die Fragen zum Umgang mit Geschlechterrollen haben, können sich an die Mütter- und Väterberatung an ihrem Wohnort oder die Elternberatung Frühe Kindheit von Pro Juventute wenden. Ebenso und altersunabhängig ist die Kinderärztin oder der Kinderarzt eine gute Anlaufstelle, sowie auch die Elternberatung von Pro Juventute. Je nach Belastung kann es auch sinnvoll sein, das Kind im Rahmen einer Psychotherapie zu unterstützen. In vielen Kantonen gibt es zudem spezielle Sprechstunden zum Thema Geschlechtsinkongruenz.