Mehr selbstbestimmte Zeit für Kinder und Jugendliche – braucht es auch da Grenzen?
Viele Kinder und Jugendliche sind heute gestresst. Verständlich, denn sie leben in derselben Welt wie wir Erwachsenen, also in einer Welt, die wir erschaffen haben und in der zunehmend über Stress geklagt wird. In Kindern sehen wir aber gerne die Möglichkeit eines Neuanfangs, und oft haben wir die Idee, sie sollten in einer besseren Welt aufwachsen.
Leben wie die Kinder von Bullerbü?
Die ideale Kindheit wurde uns von Astrid Lindgren beschrieben, in deren Büchern die Kinder spielen, spielen, spielen … die ganzen Sommerferien lang, wie beispielsweise Kalle Blomquist oder die Kinder von Bullerbü. Wir erinnern uns an Ronja Räubertochter, die eng verbunden mit und in der Natur lebt, ohne einengenden Rahmen, ganz und gar frei von Terminen und Zeitdruck. Wenn wir uns an diesem Kinderbild orientieren, entsteht schnell einmal die Idee, dass früher alles besser gewesen sei. Was so natürlich nicht stimmt. Viele Kinder waren früher in den Arbeitsprozess eingebunden und litten unter viel härteren Lebensbedingungen, als wir sie heute kennen. Was aber sicher stimmt, ist, dass Kinder heute über viel weniger unverplante Zeit verfügen. Die Erwartungshaltung, die von aussen an sie herangetragen wird, ihre hohen Erwartungen an sich selber, ein vielfältiges Freizeitangebot, das lockt und das auch zwecks Optimierung der Zukunftsaussichten wahrgenommen wird, führen zu einem Erleben von Druck und Stress.
Was tun in der freien Zeit?
Die Forderung, dass Kinder über mehr selbstbestimmte Zeit verfügen sollten, ist deshalb sehr verständlich. Und mit dem Bild der unbeschwerten Kindheit im Hinterkopf entsteht die Vorstellung, was die Kinder in der selbstbestimmten Zeit alles tun sollten: sich mit Freunden treffen, kreativ sein, sich ganz und gar in eine Tätigkeit vertiefen und die Zeit darob vergessen. Und genau das tun die Kinder auch, allerdings nicht unbedingt auf die Art, wie wir uns dies vorstellen, sondern mit den Mitteln, die sie umgeben und die die heutige Welt prägen: den elektronischen Geräten mit ihren unzähligen Möglichkeiten. Und weil dieses Spielen, meist Gamen oder Zocken genannt, unseren Erwartungen an freies Spiel so gar nicht entspricht, sind wir gerne bereit, es als mitverantwortlich für den Stress und den Druck zu sehen, unter dem Kinder und Jugendliche heute leiden.
Führt Gamen zu Stress oder baut es Stress ab?
Natürlich ist es da naheliegend, dass wir sie schützen wollen, indem wir ihnen Grenzen setzen. Da sich das Angebot an elektronischer Unterhaltung jedoch enorm entwickelt hat und sich laufend weiterentwickelt, können wir Eltern nicht auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Umso verständlicher ist der Wunsch nach Richtlinien, an denen wir uns orientieren können. So wenig wie Jugendliche jedoch angeben, dass sie durch den Gebrauch elektronischer Geräte Druck erlebten, so oft hören wir in der Beratung von Kindern, Jugendlichen und Eltern, zu wie viel Stress das Durchsetzen (zu) starrer Regeln führen kann.
Welche Grenzen sollen Eltern setzen?
Heisst das jetzt, dass Eltern ihren Kindern keine Grenzen setzen sollen im Umgang mit elektronischen Geräten? Nein!
Um sich gut entwickeln zu können, brauchen Kinder
- das Erleben von Autonomie und Selbstwirksamkeit,
- eine anregende Umgebung mit vielfältigen Erfahrungsmöglichkeiten,
- Fürsorge und Schutz.
Was bedeutet das für den Umgang mit elektronischen Spielen? Die Begleitung von Kindern und Jugendlichen verlangt auch hier, wie so oft, dass das richtige Mass der oben genannten Faktoren gefunden wird. Autonomie und Selbstwirksamkeit ermöglichen heisst, die Kinder auch tatsächlich selbst bestimmen zu lassen, was sie in ihrer freien Zeit tun möchten – also auch, sie gamen zu lassen. Wenn das Interesse an elektronischen Medien jedoch so gross ist, dass kaum mehr Raum für anderes bleibt, schränkt dies die Möglichkeit ein, genügend andere, vielfältige Erfahrungen zu sammeln.
Hier braucht es dann tatsächlich Schutz und Grenzen, damit Kinder die Welt und sich selber darin erfahren können, und dies in einer anregenderen Umgebung, als sie die elektronische Welt bietet. Grob gesagt gilt: Je jünger die Kinder sind, desto wichtiger ist es, dass sie Erfahrungen mit möglichst vielen Sinnen machen.
Die Frage lautet dann weniger, wie viel Zeit sie mit elektronischem Spielen verbringen, als vielmehr, was machen sie daneben sonst noch alles? Und wie es ihnen dabei geht?
Tipps für ein stressfreies Zusammenleben im Familienalltag
Das richtige Mass an Regeln ist so verschieden, wie es die Kinder sind. Um es festzulegen, ist es sinnvoll, sich am Kind zu orientieren. Vorgaben können als Richtwerte genutzt werden, um sie dann individuell anzupassen.
Nützliche Fragen dazu sind:
- Wie geht es meinem Kind?
- Welchen Interessen geht es sonst noch nach?
- Wie kommt es damit zurecht, mal gar nichts zu tun?
- Was können wir gemeinsam unternehmen, das attraktiv wäre?
- Wie gestalten wir gemeinsame Familienzeit?
Und zum Schluss noch, was Peter Schneider, der bekannte Psychoanalytiker, dazu sagt, was Erziehung ausmacht: «Geduld, Nerven, Liebe, Gelassenheit, Einmischung, Gewährenlassen, Rumschnauzen, Konsequenz ebenso wie Inkonsequenz, Zuhören, Diskussionen und Befehle, und zwar in einer schlecht zu bestimmenden Mischung.»