Entwicklung & Gesundheit

Warum stille Kinder oft missverstanden werden

Wir leben in einer Gesellschaft, die von extrovertiertem Verhalten geprägt wird: Offenen und kontaktfreudigen Kindern trauen wir oft mehr zu als den stillen. Zurückhaltende und in sich gekehrte Kinder denken, sie müssten sich anpassen und mehr aus sich hinausgehen. Dabei kann es passieren, dass sie ihre wertvollen Stärken nicht erkennen oder vernachlässigen. Das müssen wir ändern.
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Introvertierter Junge blickt in die Kamera

Autorin: Susanne Schild
Personalfachfrau und Mutter, die sich die Sensibilisierung für Introversion zur Aufgabe gemacht hat.

Luca ist elf Jahre alt und geht in die fünfte Klasse. Seine Lehrerin sagt, er sei in der Schule zu still und sollte sich häufiger zu Wort melden. Nach der Schule zieht er sich in sein Zimmer zurück und spielt allein. Das macht er gern. Dennoch fragen ihn seine Eltern immer wieder, warum er sich nicht häufiger mit anderen trifft und warum er in der Schule so zurückhaltend ist, wo er doch ein guter Schüler sei.

Schüchtern und introvertiert ist nicht das Gleiche

Luca wird von seinen Mitmenschen für schüchtern gehalten. Dabei ist er nur introvertiert. Das ist ein grosser Unterschied. Schüchterne Kinder haben Angst vor der Bewertung durch andere. Sie sind in sozialen Situationen gehemmt und wollen nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Da Schüchternheit eine erlernte Eigenschaft ist, die zum Teil auf negativen Erfahrungen basiert, kann man sie sich wieder abtrainieren. Normalerweise nimmt Schüchternheit mit zunehmendem Alter ab.

Im Gegensatz dazu ist Introversion eine Veranlagung, die sich nicht ablegen lässt. Introvertiertsein bedeutet, sich mehr auf seine Gedankenwelt zu fokussieren als auf das Aussen. Das liegt daran, dass das Gehirn von Introvertierten eintreffende Reize gründlicher verarbeitet und bereits im Ruhezustand sehr aktiv ist. Introvertierte Menschen verlieren Energie, wenn sie zu lange mit anderen Menschen zusammen sind. Sie sind wie Akkus, die Ruhe und Zeit für sich allein benötigen, um wieder aufzutanken. Daher wirken sie eher in sich gekehrt, still und nachdenklich.

Bei extrovertiert veranlagten Menschen ist das Gegenteil der Fall: Sie gewinnen Energie aus dem Zusammensein mit anderen, sie sind wie Windmühlen, die Aktion und Bewegung brauchen, um sich wohlzufühlen. Extrovertierte benötigen mehr Reize von aussen, verarbeiten sie schneller und können sich bei Gesprächen sogleich auf wechselnde Themen und Leute einstellen. So werden Extrovertierte eher als kommunikativ, aktiv und energisch wahrgenommen.

Introversion hat im Laufe der Jahrzehnte eine Bewertung erfahren

Natürlich gibt es verschiedene Ausprägungen von Intro- und Extroversion und die meisten von uns liegen mit ihrer Wesensart irgendwo in der Mitte. Die Unterscheidung geht auf den Psychiater Carl Gustav Jung zurück und stammt aus den 1920er-Jahren. Während Intro- und Extroversion für C.G. Jung neutrale Begriffe waren, hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Bewertung herausgebildet: Unsere heutige westliche Gesellschaft verbindet mit Extroversion mehr positive Eigenschaften als mit Introversion. Viele Erwachsene sehen ein gewisses Mass an Extroversion als Voraussetzung für schulischen und beruflichen Erfolg. Leider setzt das viele introvertierte Kinder unter Druck. Sie bekommen das Gefühl, sich anpassen und verbiegen zu müssen an etwas, das nicht ihrer Wesensart entspricht.

Glücklicherweise wurden in den letzten Jahren die Missverständnisse um die Bewertung von Intro- und Extroversion durch verschiedene Veröffentlichungen korrigiert. Die wohl bekannteste Fürsprecherin für stille Menschen ist die amerikanische Anwältin Susan Cain. 2012 erschien ihr Buch «Still – Die Kraft der Introvertierten». Durch ihr Ted-Talk-Video überzeugt sie ein Millionenpublikum von den Stärken der Stillen.

Introvertierte stellen lieber eine Sache als ihre Person in den Vordergrund

Introvertierte können durchaus aufblühen und «aus sich hinausgehen» wenn sie einer Lieblingsbeschäftigung nachgehen oder über etwas reden, das sie sehr gefesselt hat, zum Beispiel ein gutes Buch. Daher ist es für introvertierte Kinder besonders wichtig, eine solche Leidenschaft für sich zu entdecken, sei es eine Sportart, Musizieren oder eine kreative Tätigkeit.

Um andere Leute anzusprechen, brauchen introvertierte Menschen einen Grund, also ein konkretes Thema. Sie unterhalten sich ungern nur um der Unterhaltung willen, Small Talk ist nicht ihre Stärke. Für zurückhaltende Kinder – ob schüchtern oder introvertiert – bedeutet das, dass sie bei konkreten oder organisierten Aktivitäten, zum Beispiel in einem Verein, leichter mit anderen in Kontakt kommen.

Wir Erwachsenen haben einen Beruf gewählt, der zu unserem Temperament passt. Unsere Kinder haben noch keine Wahl, in der Schule gilt «one size fits all». Lehrpersonen, welche eine gute Beobachtungsgabe, Gründlichkeit und zurückhaltende Unauffälligkeit höher gewichten als spontane mündliche Mitarbeit, tun ihren introvertierten Schülerinnen und Schülern einen grossen Gefallen.

Nur eine gute Selbstkenntnis lässt uns weiterkommen

Eine introvertierte Veranlagung hat genauso viele Vor- und Nachteile wie eine extrovertierte. Beide haben ihre Daseinsberechtigung, sonst hätte die Evolution die vorsichtigeren und gründlicheren Lebewesen längst aussterben lassen. Es gibt viele bekannte Persönlichkeiten, die nur deshalb so erfolgreich wurden, weil sie aus ihrer Introversion eine grosse Stärke entwickeln konnten. Beispiele sind Charles Darwin, Albert Einstein, Mahatma Gandhi, Warren Buffet, Barack Obama, Angela Merkel, Bill Gates, Larry Page, Mark Zuckerberg, Joanne K. Rowling, Jogi Löw und Ueli Steck.

Um uns weiterzuentwickeln, müssen wir immer wieder unsere Komfortzone verlassen. Dafür ist es jedoch wichtig, die eigene Komfortzone gut zu kennen und zu akzeptieren. Wenn wir wissen, wo unsere Stärken liegen und wie wir sie am besten einsetzen können, sind wir eher bereit, uns auf Neues einzulassen und Risiken einzugehen. Je besser Kinder wie Luca die Vorteile ihrer introvertierten Veranlagung verstehen, desto besser werden sie ihr Potenzial entfalten können.
 

Wie können Eltern und Lehrpersonen stille Kinder unterstützen, in unserer lauten Welt zurechtzukommen?

Introversion ist eine Stärke – sie muss nur entdeckt werden

  • Streichen Sie Sätze wie «Komm mehr aus dir raus» konsequent aus Ihrem Wortschatz. Da Introversion eine Veranlagung ist, würden Sie mit einem solchen Satz die Wesensart des Kindes kritisieren, nicht nur ein Verhalten.
  • Schüchternheit ist ein erlerntes Verhalten, es kann unter anderem daraus resultieren, dass eine introvertierte Veranlagung falsch gedeutet wird: Wenn sich ein Kind auf Dauer nicht verstanden fühlt, ist es naheliegend, dass es darauf mit Rückzug reagiert. Daher ist es so wichtig zu unterscheiden, ob ein Kind das Alleinsein freiwillig wählt, um Energie zu tanken oder ob es Hemmungen hat, auf andere zuzugehen. Nehmen Sie die Bedürfnisse Ihres Kindes genau wahr und unterstützen Sie es - entweder indem Sie ihm Rückzug zugestehen oder indem sie ihm helfen, auf andere zuzugehen.
  • Fokussieren Sie sich nicht auf die scheinbaren Defizite Ihres Kindes, sondern fördern Sie seine positiven Eigenschaften. Typische Stärken von introvertierten Kindern sind Zuverlässigkeit, Gründlichkeit, Ausdauer bei Hobbys und schulischen Aufgaben, Empathie, eine gute Beobachtungsgabe und Konzentrationsfähigkeit. Introvertierte Kinder mögen zwar weniger Freunde haben, aber dafür sind sie eher in der Lage, loyale und tiefe Beziehungen aufzubauen.

Manifest für Introvertierte von Susan Cain (Auszug aus dem Buch «Still und stark»)

  • Ein ruhiges Temperament ist eine verborgene Kraft.
  • Es gibt einen Begriff für «Menschen, die zu sehr ins ich vertieft sind»: Denker.
  • Die meisten grossartigen Ideen entstehen in der Einsamkeit.
  • Du bist dehnbar wie ein Gummiband. Du kannst alles machen, was Extrovertierte machen, sogar ins Scheinwerferlicht treten. Für Stille ist später noch Zeit.
  • Aber obgleich du dich gelegentlich wie ein Gummiband wirst dehnen müssen, solltest du anschliessend wieder zu deinem wahren Selbst zurückkehren.
  • Zwei oder drei enge Freunde bedeuten mehr als hundert Bekanntschaften.
  • Introvertierte und Extrovertierten sind wie Yin und Yang – sie lieben und brauchen einander.
  • Es ist in Ordnung, die Strassenseite zu wechseln, um Small Talk zu umgehen.
  • Du musst kein Cheerleader sind, um andere zu führen. Lies einmal bei Mahatma Gandhi nach.
  • Wo wir schon bei Gandhi sind, er hat einmal gesagt: «Du kannst die Welt mit Sanftmut erschüttern.»

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