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Digitale Medien bei ADHS: Fluch und Segen zugleich

Kinder und Jugendliche mit ADHS reagieren auf vieles extremer. So auch auf digitale Medien. Deshalb führt der Medienkonsum in vielen Familien häufig zu Diskussionen. Erhalten Sie Tipps für herausfordernde Situationen im Familienalltag.
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Ein Mädchen spielt am Tablet.

Eine wundersame Verwandlung scheint vonstatten zu gehen, wenn Kinder mit ADHS digitale Medien nutzen. Die oft unkonzentrierten oder unruhigen Kinder sind auf einmal völlig vertieft bei einer Sache. Sie kommen zur Ruhe und können komplexe Aufgaben lösen, an welchen sie sonst vielfach scheitern. Für Eltern ist es eine Wohltat, ihr Kind, das sonst mit seinem Verhalten gerne mal aneckt, so zu sehen. Und seien wir ehrlich: In vielen Familien mit ADHS sorgen digitale Medien auch für entlastende Pausen vom Alltagsstress.

Doch leider führen Bildschirmmedien gerade in diesen Familien auch zu vielen Konflikten. «Der Umgang mit digitalen Medien empfinden viele als Leidensdruck im Familienalltag», beobachtet Ben Fisch, Sozialpädagoge mit Spezialgebiet Medienerziehung. Zu ihm kommen viele Eltern, deren Kinder mit ADHS Mühe im Umgang mit digitalen Medien haben: Die Kinder können das Gerät nicht abschalten, wenn die abgesprochene Medienzeit zu Ende ist. Sie fragen gefühlt den ganzen Tag, wann wieder Tablet-Zeit sei und fallen in ein Stimmungstief, wenn die Bildschirmzeit vorbei ist.

Was also tun? Dem Drängen nachgeben und uneingeschränkten Zugang zum heiss ersehnten Objekt gewähren? Oder Tablet und Co. besser ganz verbieten? Beides wäre kaum zielführend. Stattdessen können Eltern ihre Kinder bei der Regulierung ihres Medienkonsums aktiv unterstützen.

Kann ein hoher Medienkonsum zu ADHS führen?

In den Medien taucht immer wieder die These auf, dass ein hoher Medienkonsum Schuld an AD(H)S sei. Ein kausaler Zusammenhang als Ursache von ADHS konnte in Studien bislang jedoch nicht nachgewiesen werden. Erwiesen ist hingegen, dass ein hoher Medienkonsum die Symptome von ADHS verstärken kann. Auch gibt es Beobachtungen, dass eine exzessive Nutzung digitaler Medien bei Kindern und Jugendlichen ähnliche Symptome hervorrufen kann wie ADHS. Diese sind aber vorübergehend und führen gemäss bisheriger Studienlage zu keiner dauerhaften ADHS-Erkrankung.

Tipps für verschiedene Alltagssituationen

Mein Kind kann das Handy oder Tablet nicht ausschalten

Viele Eltern vereinbaren mit ihren Kindern einen zeitlichen Rahmen für den Medienkonsum. Ist die Zeit um, soll das Gerät ausgeschaltet werden. Oft sind sie dann aber noch mitten in einem Film oder in einer Gamerunde. Entsprechend frustrierend ist es für sie, wenn sie genau dann aufhören müssen. Dies kann verhindert werden, wenn die Medienzeit in Runden oder Folgen eingeteilt wird, statt eine fixe Zeit zu definieren.

Trotzdem kann es besonders für Kinder mit ADHS schwierig sein, nach dem Film oder der Spielrunde abzuschalten. Viele Streaming-Apps starten automatisch den nächsten Film oder zeigen eine spannende Vorschau. Auch in den meisten Games wird gleich die nächste Runde gestartet.

Solange es den Kindern schwer fällt, selber auszuschalten, ist deshalb eine enge Begleitung sinnvoll. So könnten etwa die letzten Filmminuten gemeinsam geschaut und das Gerät im Anschluss zusammen weggelegt werden. Bei längeren Filmen oder Games bietet es sich an, gemeinsam einen passenden Moment in der Dramaturgie für eine Pause abzuwarten. Dies bietet gleichzeitig die Gelegenheit, über die Medienerfahrung zu sprechen: Welche Gefühle lösen sie aus? Wieso ist die Verlockung so gross, weiterzuschauen? Welche Strategie könnte beim Ausstieg helfen?

Mein Kind fordert digitale Medien, kaum kommt es aus der Schule

Digitale Medien sind reich an visuellen und auditiven Reizen. Diese Fülle ist für viele Kinder mit ADHS äusserst verlockend. Denn einerseits kann ihr Hirn Reize schlecht ausblenden. Andererseits ist es sich gerade deshalb gewohnt, viele Reize auf einmal aufzunehmen. Entsprechend brauchen Kinder mit ADHS im Vergleich zu neurotypischen Kindern intensivere Reize, um motiviert zu werden. Games, Filme und soziale Medien bieten davon reichlich. «Weil sie sehr viele Reize aufnehmen können, haben Kinder mit ADHS beispielsweise in der Gamewelt sogar gewisse Vorteile», so Ben Fisch. Er weiss von E-Sport-Profis mit ADHS.

Trotzdem ist es für Eltern mühsam, wenn etwa direkt nach dem Aufstehen oder der Schule nach dem digitalen Gerät gefragt wird. Helfen kann es, wenn Medienzeit wie andere Tätigkeiten in die Tagesstruktur eingebettet wird. Eltern können mit dem Kind beispielsweise Zeitfenster für die Mediennutzung und die maximale Bildschirmzeit vereinbaren – allenfalls unterteilt nach Schultagen und Wochenenden/Ferientagen. So weiss das Kind von Anfang an, wann es Bildschirmmedien nutzen darf und muss nicht ständig danach fragen. Bei Jugendlichen kann der Spiess umgedreht werden: Statt Medienzeiten werden medienfreie Zeiten ausgemacht, beispielsweise vor dem Schlafen oder während des Essens. Wichtig ist, dass sich auch die Eltern als Vorbilder daran halten.

Auch lohnt es sich, zu hinterfragen, welches Bedürfnis hinter dem Drang nach Medienzeit steckt. Geht es um Entspannung, Ablenkung von negativen Gefühlen oder steckt schlicht Langeweile dahinter? Wie könnte dieses Bedürfnis stattdessen erfüllt werden? Eltern können gemeinsam mit ihren Kindern nach Alternativen suchen und diese beispielsweise als Ritual nach der Schule einführen.

Mein Kind ist nach dem Medienkonsum schlecht drauf

Der Übergang von der Medienzeit zu einer analogen Beschäftigung fällt Kindern mit ADHS häufig besonders schwer. Denn Games, aber auch soziale Medien regen im Gehirn durch die Ausschüttung von Dopamin das Belohnungszentrum an. So etwa,

  • wenn Kinder Games spielen. Die Spiele sind so aufgebaut, dass Erfolgserlebnisse möglich sind. Applaus, Konfetti, Belohnungen und Wechsel in höhere Levels verstärken den positiven Effekt.
  • wenn Jugendliche in sozialen Medien Likes erhalten oder wie im Falle von Snapchat Flammen sammeln können.
  • wenn die Heranwachsenden Filme schauen. Streaming-Apps empfehlen immer wieder etwas Neues, Aufregendes. Social-Media-Algorithmen liefern Feeds in Endlosschlaufe.

Kinder mit ADHS haben verglichen mit anderen Kindern einen Mangel an Dopamin. Nutzen sie digitale Medien, steigt der Dopaminspiegel, was sich gut anfühlt. Kaum haben sie die Bildschirmmedien jedoch weggelegt, sinkt der Dopaminspiegel wieder. Das kann Frustration auslösen. Zudem sind sie nach dem Medienkonsum auf einem hohen Anspannungslevel. Die vielen Reize haben sie angeregt. Sie sind voller Energie, wissen aber nicht, was sie als Nächstes tun sollen.

Ben Fisch rät Eltern, diese Übergänge gut zu strukturieren und ihrem Kind damit zu helfen, vom hohen Anspannungslevel herunterzukommen. «Als Zwischenstufe eignet sich zum Beispiel eine ruhige digitale Beschäftigung, welche kreativ-gestalterische Inhalte hat. Es gibt einige tolle Kreativ-Apps fürs Handy oder Tablet.» Des Weiteren könne nach der Medienzeit auch gezielt eine motivierende Aktivität eingeplant oder die Bildschirmzeit so in die Tagesstruktur eingebaut werden, dass beispielsweise danach gegessen wird.

Mein Kind hängt nur noch am Handy

Wenn die Kinder älter werden und über ein eigenes Smartphone verfügen, beobachten viele Eltern, dass ihr Kind sehr viel Zeit am Handy verbringt. Der Medienkonsum verselbstständigt sich mit den Jahren, Eltern wissen kaum mehr, womit sich die Jugendlichen am Handy beschäftigen. Das kann ein Gefühl von Kontrollverlust auslösen. «Manche Eltern haben gar Angst, ihr Kind an die digitalen Medien zu verlieren», weiss Ben Fisch. Beim Versuch, wieder Kontrolle zu erlangen, werden schnell Vorwürfe laut.

Hilfreicher als Vorwürfe zu machen ist es, wenn Eltern Interesse daran zeigen, was ihre Kinder am Handy machen. Sie können sich zeigen lassen, was an einem Game besonders Spass macht. Oder nachfragen, was die Jugendlichen an den sozialen Medien so fasziniert. «Es ist Aufgabe der Eltern, herauszufinden, wo genau der Triggerpunkt ist: Was zieht das Kind so stark an?» Bei der bei Kindern und Jugendlichen besonders beliebten App Snapchat kann man etwa Flammen sammeln. Dieses Statussymbol verliert man aber wieder, wenn man einen Tag nichts macht.

Eltern sollten sich auch überlegen, weshalb sie der hohe Medienkonsum stört. Wünschen sie sich mehr gemeinsame qualitative Zeit? Haben sie ein Bedürfnis nach handyfreien Zeiten und Räumen? Werden sie diesbezüglich ihrer Vorbildrolle gerecht? Gegenseitiges Verständnis und Reflexion des eigenen Medienverhaltens kann dazu beitragen, gemeinsame Regeln auszuhandeln, welche von der ganzen Familie akzeptiert werden können.

Online-Veranstaltung «AD(H)S und digitale Medien»

Möchten Sie mehr zum Thema ADHS und digitale Medien erfahren? In unserer Online-Veranstaltung beleuchten wir die Wirkung von Apps und Games auf das neurodiverse Gehirn. Die Pro Juventute-Fachpersonen werden dabei vom langjährigen Elterncoach Ben Fisch unterstützt. Zudem erhalten Sie die Möglichkeit, sich mit anderen Eltern auszutauschen. 

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Digitale Welt versus analoge Welt

Erlebnisse in der digitalen Welt, aber auch solche in der analogen Welt aktivieren das Belohnungszentrum. Jedoch sind Erfolgserlebnisse in den digitalen Medien viel einfacher zugänglich. Man muss nicht erst zum Fussballplatz gehen oder sich mit Freunden verabreden. Filme und Games sind rund um die Uhr verfügbar, in den sozialen Medien läuft immer etwas. Kaum öffnen wir eine App, regt Dopamin im Gehirn das Belohnungszentrum an. Kinder und Jugendliche erhalten quasi unmittelbar eine Belohnung.

Für von ADHS Betroffene ist das besonders attraktiv. Sie können viel schlechter auf Belohnungen warten als ihre neurotypischen Gspänli. Doch ist der Belohnungseffekt beim Medienkonsum im Vergleich zu Erlebnissen in der analogen Welt deutlich geringer. Er verpufft schneller und ist weniger nachhaltig. Reale Erlebnisse werden von den Beteiligten zudem als viel intensiver empfunden als digitale, weil mehr Sinne daran beteiligt sind, als nur das Sehen und Hören. 

Daher ist es wichtig, neben der Zeit mit digitalen Medien für ausreichend Ausgleich offline zu sorgen. Auch kann sich zu viel Medienzeit negativ auswirken und eine bereits vorhandene ADHS-Erkrankung verstärken.

Suchtgefahr digitaler Medien

Digitale Medien sind für die meisten Kinder attraktiv. Doch Kinder und Jugendliche mit ADHS sind noch empfänglicher für ihre Reize: Sie können sich gut entspannen, indem sie sich total darin vertiefen und alles andere ausblenden. Sie erleben Erfolge und gewinnen Vertrauen in ihre Fähigkeiten, etwa wenn sie in einem Game besonders gut sind. In der digitalen Welt müssen sie keine sozialen Konflikte bewältigen und können ihren persönlichen Interessen nachgehen. Dadurch sind sie besonders gefährdet, sehr viel Zeit online zu verbringen, einen exzessiven Medienkonsum oder gar eine Handysucht oder Gamesucht zu entwickeln.

Kinder vom Bildschirm weg bringen

Doch wie können Eltern ihr Kind von Handy, Tablet und Co. weg bringen, wenn die Reizflut und der unmittelbare Belohnungskick so verlockend sind? Eine Möglichkeit könnte sein, die Selbstbeschäftigung aktiv zu fördern. Denn manchmal wissen Kinder und Jugendliche schlicht nicht, was sie machen könnten und greifen aus Langeweile zu Bildschirmmedien.

Die Eltern können ihr Kind in diesem Prozess mit Ideen für Aktivitäten unterstützen. Hilfreich könnte je nach Alter des Kindes eine Box mit Gegenständen oder eine Liste mit verschiedenen Tätigkeiten sein. Doch aufgepasst: Ziel ist nicht, dass die Eltern das Kind unterhalten. Es soll zur Selbstbeschäftigung angeregt werden und lernen, was ihm guttut.

Vielen Familien helfe es auch, wenn Eltern die Verantwortung für die Mediennutzung Schritt für Schritt an die Kinder übergeben, sagt Ben Fisch: «Die Eltern können ihrem Kind signalisieren: Wenn du die Verantwortung tragen kannst, können wir den Rahmen erweitern.» Klappt es jedoch noch nicht so ganz, braucht es möglicherweise wieder mehr Regeln und Kontrolle, bis die Strategien für einen gesunden Umgang mit digitalen Medien gefestigt sind.

Tipps für Eltern von Kindern mit ADHS

  • Ermöglichen Sie Erfolgserlebnisse in der realen Welt, beispielsweise durch ein lustvolles Bewegungsangebot oder gemeinsame Aktivitäten. Unterstützen Sie Ihr Kind bei der Pflege von Freundschaften und Hobbys.
  • Tauschen Sie sich immer wieder mit Ihrem Kind über Ihr eigenes und das Medienverhalten des Kindes aus. Sprechen Sie über Anreize in Apps und Games und hinterfragen Sie deren Belohnungsmechanismen.
  • Vermeiden Sie es, Ihr Kind mit mehr Medienzeit zu belohnen oder es mit weniger Medienzeit zu bestrafen. Das macht digitale Medien erst recht attraktiv.
  • Gestalten Sie einen Tagesplan, auf dem neben Pflichten wie Hausaufgaben oder Verabredungen auch Medienzeit sowie Zeit zur Selbstbeschäftigung aufgeführt sind.
  • Machen Sie sich kein schlechtes Gewissen, wenn Sie Ihrem Kind ausnahmsweise mehr Medienzeit erlauben, als abgemacht. Achten Sie auf Ihre eigenen Bedürfnisse.
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