Kinder dürfen auch «nur» durchschnittlich sein
Autorin: Prof. Dr. Margrit Stamm
Professorin für Erziehungswissenschaft, Universität Fribourg und Direktorin des Forschungsinstituts Swiss Education
In unserer modernen Leistungsgesellschaft dominiert der Mythos des erfolgreichen Kindes. Der Druck, ein frühreifes und vielleicht auch hochbegabtes Kind zu haben, ist so ansteckend, dass man dem schnell verfällt. Für nicht wenige Eltern liegt der Wert des Kindes in seiner Leistung, und ein Spitzenschüler gilt als Mass für eine gute Erziehung. Doch allein schon diese Idee stresst die Eltern, aber auch viele Lehrkräfte – und Kinder entwickeln sich immer weiter weg von dem, was sie eigentlich in ihrem Kern wären.
Kinder, die in einer sorgenvollen familiären Treibhaus-(Hothousing-)Atmosphäre aufwachsen, übernehmen die Ängstlichkeit, absorbieren und internalisieren sie – und glauben, Schule, Freizeit und überhaupt die ganze Welt seien stressvolle Orte. Die Konsequenzen reichen von Schlafproblemen über Migräne bis zu Magenbeschwerden und Panikattacken o.Ä. Obwohl einige der Symptome organisch sind, werden andere durch das angstvolle Elternverhalten beeinflusst.
Hochbegabung als stigmatisierende Etikette
Eltern und auch Lehrkräfte sind sich oft (zu) sicher, dass sie genau wissen, wie sich ein Kind in seiner Haut fühlt. Tatsache ist, dass dies lange nicht immer zutrifft. Nehmen wir das Beispiel von Luca (9 Jahre), das mir eine Psychologin erzählt hat.
Luca begann, sich überall im Gesicht zu kratzen. Das wurde zu einer so irritierenden Gewohnheit, dass die Eltern mit ihm in eine Therapie gingen. Sie beschrieben ihn als Kind, das sein Potenzial trotz einer diagnostizierten Hochbegabung nicht ausschöpfe. Aber fragte man Luca, tönte es anders. Er sagte: «Alle sagen mir, du bist hochbegabt, aber ich hasse es, hochbegabt zu sein. Alle erwarten von mir, dass ich in vielen Dingen besser bin, weil ich hochbegabt bin. Ich bin zwar hochbegabt, aber ich weiss nicht, wie ich besser werden kann.»
Doch auch seine Eltern waren davon betroffen, weil der Lehrer ihnen immer wieder zurückmeldete, dass sich Luca nicht genug Mühe geben würde und er alles viel besser könnte, wenn er nur wollte. Die Eltern verstanden dieses Feedback als Hinweis darauf, dass sie ihren Sohn zu wenig herausforderten.
So denken viele Familien. In unserer Gesellschaft ist die Idee, Eltern sollten ihre Kinder optimieren, eine tief verankerte Überzeugung der unbedingten Ausschöpfung des Potenzials.
Das zweischneidige Schwert der Suche nach dem Potenzial
Doch das Wort Potenzial ist zweischneidig. Weil es ausschliesslich positiv konnotiert wird, werden die zugrunde liegenden stigmatisierenden Implikationen zu wenig berücksichtigt. Wenn wie in obigem Beispiel Luca kommuniziert wird, er würde sein Potenzial nicht ausschöpfen, wird ihm gleichzeitig rückgemeldet, dass er nicht das ist, was er sein sollte. Doch eigentlich würde sich Luca vor allem danach sehnen, gelobt zu werden, für das, was er im Moment ist oder was er im Moment gut kann. Weil er konstant mit einem «Soll-Status» verglichen wird, ist er frustriert und reagiert verärgert.
Der Begriff Potenzial muss neu definiert werden. Anstatt darunter zu verstehen, dass aus dem Kind das werden soll, was man erwartet, sollten wir uns der Potenz des Kindes, seinen ihm innewohnenden Kräften im Hier und Jetzt zuwenden. Wer dies tut und spürt, was im Kind aktuell steckt, muss sein Potenzial nicht in die Zukunft projizieren. Stellen wir uns vor, wie gut sich Luca fühlen würde, wenn seine Eltern und sein Lehrer einfach denken würden, er sei so, wie er ist, in Ordnung!
Der druckfreie Blick auf Kinder erfordert Standhaftigkeit
Doch der positive und druckfreie Blick auf Kinder ist nicht zeitgemäss. Deshalb braucht eine solche Einstellung viel Mut und Standhaftigkeit der Eltern, den Freunden, Nachbarn und Verwandten zu widerstehen, die andauernd von der Ausschöpfung des Potenzials sprechen und sie darauf verweisen, was sie alles unterlassen.
Eltern, die versuchen, ihre Optimierungsstrategie zu mässigen, entgegnen immer wieder, sie seien die Einzigen, welche ihre Kinder nicht gezielt fördern würden, und das sei sehr schwierig. Dies ist mehr als nachvollziehbar! Aber wenn sie ihren Nachwuchs zu einem eigenständigen und glücklichen jungen Menschen erziehen wollen, müssen sie gewillt sein, gegen den Strom zu schwimmen. Anstatt treu dem Diktat der anderen zu folgen, sollten sie sich auf das Wesen des Kindes und sein «Recht auf den heutigen Tag» (Janusz Korczak) einstellen, denn darin liegen alle Antworten.
Wer diesen Weg wählt, wird wahrscheinlich dem Kind:
- ein Selbstbestimmungsrecht über seine Kindheit einräumen und ihm den Lead überlassen, was es interessiert und motiviert,
- ermöglichen, dass es sich an seiner Kindheit erfreuen kann und mit möglichst wenig Fremdterminen eingedeckt, dafür mit viel Platz und Zeit ausgestattet wird,
- Freude an Hobbys zugestehen, ohne es in Wettbewerbssituationen zu drängen, und
- zubilligen, dass es auch durchschnittlich sein darf.