Die grossen Lücken bei der Suizidprävention schliessen
- Die psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen ist in der Schweiz im Vergleich zum Ausland sehr hoch. Für eine Verbesserung der Kinder- und Jugendsuizidraten in der Schweiz sind endlich ausreichend finanzielle Mittel zur Umsetzung längst bekannter Massnahmen nötig.
- Überfällig sind eine breite Sensibilisierung der Bevölkerung für das Thema Jugendsuizid und Kampagnen, die auf Risikopersonen und ihr Umfeld zielen. Bestehende Beratungsangebote müssen ausgebaut werden, der Zugang zu ihnen muss möglichst niederschwellig sein.
- Prävention von Cybermobbing steckt in der Schweiz noch in den Kinderschuhen. Jugendliche müssen eine «suizidpräventive» digitale Kommunikationskultur lernen sowie den verantwortungs- und respektvollen Umgang mit digitalen Medien.
- Bei der Mobbingprävention spielen die Schulen eine zentrale Rolle: Sie benötigen Ressourcen, um passende Konzepte und Strukturen aufzubauen, um Mobbing rechtzeitig anzusprechen und für ein gutes Klassenklima zu sorgen. Dazu gehört insbesondere die Schulsozialarbeit.
- Es gibt gute Gründe, die dafürsprechen, dass Cybermobbing strafbar wird. Die Opfer würden gestärkt, Präventionsmassnahmen liessen sich einfacher legitimieren und Sensibilisierungskampagnen würden mehr Beachtung finden.
Um die psychische Gesundheit der Schweizer Kinder und Jugendlichen steht es nicht gut. Die Schweiz hat eine Jugendsuizidrate, die über dem weltweiten Durchschnitt liegt. Ihr wird etwa vom UNO-Kinderrechtsausschusses regelmässig dringend empfohlen, die Suizidprävention bei Kindern und Jugendlichen zu verstärken. In keinem anderen europäischen Land leiden zudem so viele Kinder unter Mobbing1. Evidenz dafür findet sich unter anderem in der täglichen Arbeit der Beratungsstellen von Pro Juventute. Jeden Tag melden sich mindestens zwei Kinder oder Jugendliche zum Thema Suizid. Keine Altersgruppe begeht ähnlich viele Suizidversuche wie die Jugendlichen. Während im Erwachsenenalter hauptsächlich psychische Erkrankungen Auslöser für Suizide sind, sind es bei den Jugendlichen vor allem akute Belastungssituationen2. Niederschwellige Beratung hilft in dieser Situation, in vielen Fällen reicht ein Gespräch und die Botschaft «es geht vorbei, du kannst die Krise erfolgreich bestehen». Denn: Die meisten Jugendlichen wollen, dass Schmerz und Belastung aufhören, nicht aber das Leben. Mit dem Aktionsplan Suizidprävention liegt seit längerem ein Massnahmenkatalog vor. Was es jetzt braucht, sind die für die konsequente Umsetzung notwendigen Ressourcen.
Nur bekannte Angebote haben einen präventiven Nutzen
Studien zeigen, dass vor allem schulbasierte Programme und Notfallnummern präventive Wirkung zeigen3. Bei akuter Suizidalität sind telefonische Beratungs- oder Notfallnummern mit geschulten Ansprechpersonen besonders wichtig. Ein solches Angebot betreibt Pro Juventute mit der Notrufnummer 147 seit Jahren. Eine repräsentative Befragung von 15- bis 25-Jährigen zeigt zwar, dass die grosse Mehrheit der Jugendlichen die Nummer 147 kennt, nur wenige wissen jedoch, welche Dienstleistung hier angeboten werden. 60 % geben gar an, dass sie keine Stelle kennen, an die sie sich in Krisensituationen wenden könnten4.
Nationale Suizidpräventionskampagnen, die das Thema Jugendsuizid enttabuisieren und bestehende Beratungsangebote wie die Notfallnummer 147 bekannt machen, sind dringend notwendig. Denn nur bekannte Angebote haben auch einen präventiven Nutzen! Parallel zur breiten Sensibilisierung ist die direkte Ansprache an Jugendliche mit erhöhtem Risiko und an ihr Umfeld zu verbessern, sei das mit Massnahmen, die auf Peer-Gruppen abzielen, oder mit persönlicher (face-to-face) Ansprache.
Wissenslücken in der Suizidprävention schliessen
Präventionsmassnahmen können nur dann effektiv eingesetzt werden, wenn sie auf wissenschaftliche Evidenz abstützen. Ausgerechnet hier steht die Schweiz aber noch ganz am Anfang. Die Datenlage zu Kinder- und Jugendsuiziden und Suizidversuchen ist ungenügend und lückenhaft. Die Erhebung von Daten rund um das Thema Suizid von Kindern und Jugendlichen muss zwingend verbessert und standardisiert werden. Zusätzlich muss Erfahrungswissen von Betroffenen, Angehörigen und Hinterbliebenen systematisch gesammelt und für die Verbesserung der Prävention und von Interventionsangeboten nutzbar gemacht werden. Zudem brauchen die verschiedenen Akteure, die in der Suizidprävention aktiv sind, eine zentrale Plattform, auf der sie Erfahrungswissen und Best Practice-Modelle aus dem In- und Ausland sammeln und austauschen können. Pro Juventute fordert, dass derlei Grundlagen der Suizidprävention zeitnah auf- und ausgebaut werden.
Konsequente Mobbingprävention beugt Suizid im Jugendalter vor
Mobbingerfahrungen im Kindesalter wirken sich später auf die Suizidalität aus: Rekruten-befragungen zeigen, dass Opfer von Mobbing im Kindesalter eineinhalb- bis dreimal häufiger Suizidversuche unternehmen5. Prävention von Mobbing ist also auch Suizidprävention. Dazu gehört ganz besonders auch Cybermobbing. Aktuelle Daten zeigen, dass rund ein Viertel aller Jugendlichen mindestens schon einmal Opfer von Cybermobbing war6, 21 % kämpften danach mit Suizidgedanken7. Mobbing über digitale Medien hat eine besondere Dynamik, Inhalte verbreiten sich rasend schnell und in einem grossen Kreis und sind kaum zu entfernen. Ohnmachtsgefühl und subjektives Leiden der Opfer sind bei Cybermobbing besonders gross. Es ist deshalb zentral, dass Jugendliche früh einen verantwortungsvollen, suizidpräventiven Umgang mit digitalen Medien erlernen.
Eine besondere Rolle spielen dabei die Schulen, denn Mobbing beginnt häufig im schulischen Umfeld. Wirksame Mobbingprävention gelingt deshalb nur unter Einbezug des gesamten Schulkontexts und muss das Ziel haben, das Schulklima nachhaltig zu verbessern. Offene Kommunikationskultur und ein etabliertes Standardvorgehen sind im Ernstfall Voraussetzung. Damit die Schulen ihren Präventionsauftrag erfüllen können, brauchen sie aber medienpädagogische Fachstellen, die die Lehrpersonen unterstützen, und zusätzliche Ressourcen insbesondere für die Schulsozialarbeit, damit sie entsprechende Konzepte aufbauen und anwenden und um Mobbing laufend in allen Klassen thematisieren können.
Es gibt gute Gründe, Cybermobbing unter Strafe zu stellen
Es sind verschiedene politische Diskussionen darüber im Gang, ob Cybermobbing als Straftatbestand explizit im Strafgesetz aufgenommen werden soll. Rechtlich ist die Sache klar: Wesentliche Elemente von Cybermobbing sind bereits heute gesetzlich geregelt und strafbar, etwa wegen Missbrauch von personenbezogenen Daten, Ehrverletzung, Bedrohung, Nötigung, Pornografie oder Gewaltdarstellung. Die ausdrückliche Schaffung eines Straftatbestands Cybermobbing würde die Prävention aber massgeblich unterstützen, indem sie die Stellung der Opfer stärkt und den gezielten Ausbau von Angeboten ermöglicht. Die klare Benennung als Straftatbestand hat auch aufklärende und sensibilisierende Wirkung und verschafft dem Anliegen insgesamt mehr Aufmerksamkeit. Pro Juventute stellt sich deshalb klar hinter die Forderung, das Strafgesetz um einen Straftatbestand Cybermobbing zu erweitern.
Rasche und unkomplizierte Unterstützung für Opfer und Täter
Zu viele Kinder und Jugendliche leiden in der Schweiz unter einer schlechten psychischen Gesundheit. Pro Juventute setzt sich für eine Stärkung der Prävention ein, für bessere Früherkennung und einen gezielten Ausbau von Beratungs- und Behandlungsangeboten für Betroffene und deren Angehörige. Um die Kinder- und Jugendsuizidrate zu senken, braucht es ausreichend Mittel zur Realisierung des Aktionsplans Suizidprävention sowie zusätzliche Ressourcen an den Schulen im Bereich der Mobbingprävention und Angebote, die im Ernstfall schnell und niederschwellig erreichbar sind, und zwar für alle Involvierten, auf Opfer- und Täterseite, gleichermassen.
1Konsortium PISA.ch (2019). PISA 2018: Schülerinnen und Schüler der Schweiz im internationalen Vergleich. Bern und Genf: SBFI/EDK und Konsortium PISA.ch.
2https://gesundheitsfoerderung.ch/assets/public/documents/de/5-grundlagen/publikationen/psychische-gesundheit/Suizidpraevention_in_der_Schweiz.pdf (Zahlen 2013)
3Interface 2015: Literaturstudie und Bestandsaufnahme zu Sekundär- und tertiärprävention bei Suizidalität: Früherkennung und Angebote im nicht medizinischen und medizinischen Setting.
4DemoScope Umfrage 2017: https://www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/psychische-gesundheit/politische-auftraege/motion-ingold/Umgang%20Probleme%20Jugendliche.pdf.download.pdf/180208_Endbericht.pdf
5Staubli, Silvia; Killias, M. (2011): Long-term coutcomes of passive bullying during childhood: Suicide attempts, victimization and offending. In: Euopean Journal of Criminology 8 (5), S. 377–385.
6Suter, L., Waller, G., Bernarth, J., Külling, C., Willemse, I. und Süess, D. (2018): JAMES – Jugend, Aktivitäten, Medien – Erhebung Schweiz. Zürich: Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. JAMES-Studie 2018
7Bündnis gegen Cybermobbing (2018): Mobbing und Cybermobbing bei Erwachsenen – die allgegenwärtige Gefahr Eine empirische Bestandsaufnahme in Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz (Cyberlife II).