Kindswegnahmen bei jenischen Familien: Ein dunkles Kapitel unserer Geschichte

Zwischen 1926 und 1973 nahm das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse», das zu Pro Juventute gehörte, mit Hilfe der Behörden rund 600 jenische Kinder ihren Eltern weg und brachte die Kinder in Heimen, Erziehungsanstalten und bei Pflegfamilien unter. Weitere Kinder wurden direkt von den kommunalen und kantonalen Behörden aus ihren Familien genommen. Schätzungen zufolge wurden gegen 2000 Kinder fremdplatziert. Viele Kinder erfuhren Gewalt und wurden als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. Die systematische Trennung von Eltern und Kindern war zutiefst diskriminierend und hatte schwerwiegende Folgen. Pro Juventute distanziert sich heute klar und deutlich von der traumatisierenden Praxis und unterstützt die Aufarbeitungs- und Aufklärungsarbeit ideell und finanziell – im Wissen und mit der Demut, dass das Leid der Opfer bis heute anhält. 

Es ist aus heutiger Sicht unvorstellbar: Doch bis in die 1970er-Jahre unterstützten viele Fachleute, Behördenmitglieder und Medienschaffende die diskriminierende Praxis der Pro Juventute. Sie teilten die Meinung, dass die Kinder jenischer Eltern nicht nur durch ihre Familien gefährdet waren, sondern auch eine vermeintliche Gefahr für die Gesellschaft darstellten. Dabei spielten rassistische Vorstellungen, die von der Wissenschaft gestützt und verbreitet wurden, eine zentrale Rolle. Jenische galten in diesen Kreisen als minderwertige Menschen. Betroffen von den Kindswegnahmen waren deshalb nicht nur fahrende, sondern auch sesshafte Familien. Pro Juventute prägte als grösste Schweizer Stiftung für Kinder und Jugendliche im 20. Jahrhundert dieses Bild über Jenische massgeblich mit, initiierte und propagierte die systematische Kindswegnahmen von jenischen Kindern als einzige Möglichkeit, die Kinder mit Zwang zu assimilieren. 

Kinder wurden mit Hilfe der Behörden ihren Familien entnommen und unter Vormundschaft gestellt, weil sie Jenische waren. Der Leiter respektive später die Leiterin des sogenannten Hilfswerks fungierte als Vormund der Kinder. 

Leid der Kinder und Familien wirkt bis heute nach 

Das Unrecht begann mit der Trennung der Kinder von ihren leiblichen Eltern und setzte sich mit dem fehlenden Schutz vor Missbrauch, Ausbeutung und Gewalt durch die verantwortlichen Vormunde fort. Die traumatisierende Trennung von der Familie und dem kulturellen Umfeld sowie die später oft erfahrene physische, psychische und sexuelle Gewalt in Heimen und Pflegefamilien haben schwerwiegende Folgen für die Opfer bis in die Gegenwart. Viele Opfer sind in ihrer Integrität schwer verletzt worden und teilweise auch in finanziellen Nöten, da ihnen eine Schul- und Berufsausbildung in vielen Fällen verwehrt wurde.  

Verschiedene Organisationen, allen voran die Stiftung «Naschet Jenische» und deren Präsidentin Uschi Waser, leistet die heute noch notwendige Aufklärungsarbeit in Schulen, Ämtern und Behörden. 

Da der Unterstützungsbedarf der Jenischen während der COVID-19-Pandemie die Kapazitäten der Stiftung Naschet Jenische bei weitem überschritt, wurde das Beratungsangebot 2021 in die Stiftung «Zukunft Schweizer Fahrende» überführt. Nur so konnte das Angebot den Bedürfnissen entsprechend angepasst und erweitert werden. Die Stiftung «Naschet Jenische» besteht weiterhin und setzt sich für alle Belange der Betroffenen von der Aktion «Kinder der Landstrasse» ein. Die Aufarbeitung und Rehabilitation der Betroffenen ist und bleibt ein zentrales Anliegen der Stiftung «Naschet Jenische».  

Pro Juventute trägt die Verantwortung 

Aufgedeckt wurden die durch die Pro Juventute veranlassten Kindswegnahmen durch die Schweizer Zeitschrift “Beobachter”. 1972 erschien der erste Artikel des Journalisten Hans Caprez. Es folgten weitere Beiträge, die das Leid der Familien und Kinder aufzeigten. Schliesslich führten die Proteste jenischer Organisationen und Personen sowie die Berichterstattung in den Medien 1973 zur Auflösung des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse». Die geforderte Aufarbeitung und Wiedergutmachung fand breite politische und institutionelle Unterstützung. Der Kampf der Jenischen um Anerkennung des erfahrenen Unrechts und Leids war dennoch langwierig und schwierig. Erst ein Generationenwechsel innerhalb der Pro Juventute ermöglichte, dass die Stiftung die vom Bundesparlament initiierte Aufarbeitung ohne Vorbehalte unterstützte.  

Heute sind Jenische und Sinti in der Schweiz als nationale Minderheit anerkannt, unabhängig davon, ob sie fahrend oder sesshaft leben.  

Finanzielle und ideelle Unterstützung 

Pro Juventute entschuldigte sich inzwischen mehrmals bei den Opfern, setzte sich für die Aufarbeitung des begangenen Unrechts ein und unterstützte die Bestrebungen zur Wiedergutmachung. Das Schweizer Parlament bewilligte schliesslich 11 Millionen Franken. Im Einzelfall erhielten die betroffenen Personen bis zu 20’000 Franken.

Pro Juventute distanziert sich heute klar und deutlich von ihrer damaligen Praxis und übernimmt die Verantwortung, in dem sie die wichtige Aufarbeitung- und Aufklärungsarbeit von «Naschet Jenische» und das Beratungsangebot der Stiftung «Zukunft Schweizer Fahrende» für die Opfer weiterhin finanziell und ideell unterstützt.  

Links: 

«Kinder der Landstrasse»: Die Kinderdiebe der Pro Juventute, Beobachter

Literaturempfehlungen: 

Darstellungen

  • Galle Sara, «Man darf das nicht vergessen». In: Polis, Magazin für Politische Bildung 2/2009. [PDF]
  • Galle, Sara / Meier, Thomas, Von Akten und Menschen. Die Aktion «Kinder der Landstrasse» der Stiftung Pro juventute, Zürich: Chronos 2009. Galle, Sara / Meier, Thomas, Die «Kinder der Landstrasse» in Akten, Interviews und Reportagen. Ein Arbeitsheft für den Unterricht an Mittelschulen und Fachhochschulen, Zürich: Chronos 2010.
  • Huonker, Thomas, Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt. Jenische Lebensläufe, dokumentiert von Thomas Huonker, hg. von der Radgenossenschaft der Landstrasse, 2. Auflage, Zürich: Limmat Verlag 1990.
  • Kinder zwischen Rädern. Kurzfassung des Forschungsberichtes «Das Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse», redigiert von Bernadette Kaufmann, hg. vom Marie Meierhofer-Institut für das Kind im Auftrag des Bundesamtes für Kultur, (‹undKinder› 67) Zürich: Marie Meierhofer-Institut für das Kind 2001.
  • Leimgruber, Walter / Meier, Thomas / Sablonier, Roger, Das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse». Historische Studie aufgrund der Akten der Stiftung Pro juventute im Schweizerischen Bundesarchiv (Bundesarchiv Dossier 9), Bern 1998. (Download: http://www.landesgeschichte.ch/downloads.html)

Literarische Verarbeitungen und Selbstzeugniss

  • Mehr, Mariella, Kinder der Landstrasse. Ein Hilfswerk, ein Theater und die Folgen, Drama, Bern: Zytglogge 1987.
  • Mehr, Mariella, Steinzeit (silviasilviosilvana), Ed. AIEP, Rep. di San Marino, 1995, ISBN 88-86051-23-9)
  • Moser, Peter Paul, Entrissen und Entwurzelt, Thusis 2000.
  • Moser, Peter Paul, Die Ewigkeit beginnt im September, Thusis 2000.
  • Moser, Peter Paul, Rassendiskriminierung und Verfolgung während einer ganzen Generation, Thusis 2002.
  • Wenger, Graziella, Zerschlagene Räder. Jugenderinnerungen, 3. Auflage, Basel 1995.

Jenische, Sinti und Roma in der Schweiz

  • Dazzi, Guadench / Galle, Sara / Kaufmann, Andréa / Meier, Thomas. Puur und Kessler. Sesshafte und Fahrende in Graubünden, hg. vom Institut für Kulturforschung Graubünden, Baden: hier + jetzt 2008.
  • Huonker, Thomas / Ludi, Regula, Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus, unter Mitarbeit von Bernhard Schär, hg. von der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, (Veröffentlichungen der UEK 23) Zürich: Chronos 2001.
  • Jenische, Sinti und Roma in der Schweiz. Resultate aus den Forschungsprojekten des Nationalen Forschungsprogramms 51, Integration und Ausschluss, Bulletin 6/2007.
  • Kanyar Becker, Helena (Hg.), Jenische, Sinti und Roma in der Schweiz, (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 176) Basel: Schwabe 2003.
  • Meier, Thomas Dominik / Wolfensberger, Rolf, Bedrängte Kindheit. Fahrende Kinder seit dem 19. Jahrhundert, in: Hugger, Paul (Hg.), Kind sein in der Schweiz. Eine Kulturgeschichte der frühen Jahre, Zürich: Offizin 1998, S. 109– 114.
  • Meier, Thomas, Zigeunerpolitik und Zigeunerdiskurs in der Schweiz 1850–1970, in: Zimmermann, Michael (Hg.), Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerforschung und Zigeunerpolitik im Europa des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007, S. 226–239.
  • Walder, Urs, Nomaden in der Schweiz. Mit Texten von Mariella Mehr, Venanz Nobel und Willi Wottreng, Zürich: Scalo 1999.

Jugendfürsorge in der Schweiz

  • Leuenberger, Marco / Seglias, Loretta (Hg.), Versorgt und vergessen. Ehemalige Verdingkinder erzählen, Zürich: Rotpunktverlag 2008.
  • Ramsauer, Nadja, «Verwahrlost». Kindswegnahmen und die Entstehung der Jugendfürsorge im schweizerischen Sozialstaat 1900–1945, Zürich: Chronos 2000.
  • Schoch, Jürg / Tuggener, Heinrich / Wehrli, Daniel, Aufwachsen ohne Eltern. Verdingkinder, Heimkinder, Pflegekinder, Windenkinder, Zur ausserfamiliären Erziehung in der deutschsprachigen Schweiz, Zürich: Chronos 1989.
  • Wilhelm, Elena, Rationalisierung der Jugendfürsorge. Die Herausbildung neuer Steuerungsformen des Sozialen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Bern: Haupt 2005.
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