Kindergerechte Justiz: Warum eine griffige Ombudsstelle für Kinderrechte erforderlich ist

28. März 2024 - Der Bundesrat möchte die Kinderrechte durch die Schaffung einer Ombudsstelle stärken. Aus Sicht von Pro Juventute ist die Vorlage jedoch nicht dazu geeignet, die Lücken einer kindgerechten Justiz zu schliessen und die langjährige Forderung nach einer Ombudsstelle für Kinderrechte in der Schweiz wirksam umzusetzen.
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Mädchen mit Fernglas

Handlungsbedarf für eine Ombudsstelle ist ausgewiesen

Jedes Kind hat ein Recht auf Mitbestimmung in Angelegenheiten, die es betreffen. Es kennt aber seine Rechte oft nicht und kann sie nicht selbst einfordern. Kinderrechte werden immer wieder verletzt: Sowohl im Kindes- und Erwachsenenschutzrecht als auch im Zusammenhang mit Scheidungs- oder Strafverfahren werden die Sicht und die Anliegen von Kindern oft nicht angemessen berücksichtigt.

Mit der Änderung der Kinder- und Jugendförderungsverordnung KJFV möchte der Bundesrat die Kinderrechte durch die Schaffung einer Ombudsstelle stärken. Der Handlungsbedarf bezüglich einer Ombudsstelle für Kinderrechte und besonders einer Anlaufstelle für Kinder ist klar ausgewiesen. Rund 100’000 Kinder sind in der Schweiz jedes Jahr direkt oder indirekt von gerichtlichen oder verwaltungsrechtlichen Verfahren betroffen. Während ihr Einbezug in den weitaus meisten Fällen reibungslos funktioniert und ihre Rechte gewahrt werden, kommt es doch auch regelmässig zu Verletzungen der Kinderrechte. Darauf weist auch die Nachfrage der privatrechtlichen Stiftung Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz hin, welche 2020 als Pilotprojekt und Modellvorhaben für die Zwischenphase bis zur Schaffung einer öffentlich-rechtlichen Ombudsstelle gegründet wurde.

Vorgesehene Aufgabenbereiche decken nur einen Teil einer griffigen Ombudsstelle für Kinderrechte ab

Pro Juventute begrüsst die in der Vorlage verankerte Zielsetzung der Stärkung der Kinderrechte und die Anerkennung der Lücken hinsichtlich der Kindgerechtigkeit der Schweizer Justiz. Mit der vorgeschlagenen Anpassung der KJFV soll die Grundlage dafür geschaffen werden, dass eine nationale Kinderrechtsorganisation Wissen erarbeitet und bereitstellt, die Umsetzung der Kinderrechte in der Schweiz analysiert, Behörden berät und die Akteure auf Bundes-, kantonaler und kommunaler Ebene vernetzt.

Obwohl die mit diesen Aufgaben zu mandatierende Institution unbestritten einen wichtigen Beitrag zur Förderung und dem Schutz der Kinderrechte auf einer generellen Ebene leistet, decken diese Tätigkeiten das notwendige Profil einer Ombudsstelle nicht vollständig ab. Aus Sicht von Pro Juventute muss die Ombudsstelle insbesondere auch als niederschwellige rechtliche Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche fungieren. Diese kann von Kindern, Jugendlichen und deren Umfeld mit konkreten Fragen und Anliegen direkt kontaktiert werden, aber auch von Erwachsenen in deren Umfeld (von Eltern, aber beispielsweise auch von Jugendarbeitenden). Als Anlaufstelle nimmt die Ombudsstelle diese individuellen Anliegen und Beschwerden entgegen, analysiert die Situation und informiert und berät die Kinder und ihre Bezugspersonen. Sie spricht Empfehlungen an staatliche Stellen aus und führt Vermittlungsgespräche. Sie vermittelt sie an andere geeignete Institutionen oder beauftragt bei Bedarf eine Rechtsvertretung. Die Anlaufstelle führt selbst keine Fälle und erhebt nicht Beschwerde, sondern setzt sich situativ für die Kinder- und Verfahrensrechte ein.

Ein Thema von (inter-)nationalem Interesse

Pro Juventute bedauert ausserordentlich, dass die Schaffung einer solchen unabhängigen und direkten Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche mit rechtlicher Beratungs- und Vermittlungstätigkeit in der Vorlage nicht vorgesehen ist. National- und Ständerat hatten dies mit der Überweisung der Motion 19.3633 von Ruedi Noser derweil unmissverständlich gefordert. In einer vom BSV in Auftrag gegebenen Bestandesaufnahme wurde der Bedarf danach ebenfalls aufgezeigt.

Im Übrigen hat der UN-Kinderrechtsausschuss im Rahmen des periodischen Staatenberichtsverfahrens in seinen Schlussbemerkungen die Schweiz ebenfalls aufgefordert, unverzüglich eine Ombudsstelle für Kinderrechte zu schaffen, die mitunter Beschwerden von Kindern in kindgerechter Art und Weise entgegennimmt, untersucht und in der Sache ermittelt. Wir weisen darauf hin, dass die Thematik der kindgerechten Justiz auf supranationaler Ebene für die Kinderrechte weiterhin im Fokus bleiben wird: Der UN-Kinderrechtsausschuss erarbeitet derzeit eine Allgemeine Bemerkung (General Comment) Nr. 27 über den Zugang zur Justiz und wirksame Rechtsbehelfe. Gemäss einleitendem Konzeptpapier wird darin das Recht der Kinder auf Zugang zur Justiz, einschliesslich verschiedener Rechtsmittel, hervorgehoben und die Bedeutung der Schaffung wirksamer Beschwerdemechanismen für alle Kinder betont, um sicherzustellen, dass Kinder im Falle einer Verletzung ihrer Rechte eine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Beratung und Vertretung erhalten.

Beratungserfahrung beim 147 zeigt Bedarf an einer spezialisierten juristischen Anlaufstelle für Kinderrechte

Pro Juventute betreibt mit dem 147 seit rund 25 Jahren ein niederschwelliges nationales professionelles Erstberatungsangebot für Kinder und Jugendliche. Die Inbetriebnahme des 147 erfolgte in Zusammenhang mit der Ratifizierung der UNO-Kinderrechtskonvention, welche die Schweiz zur Bereitstellung eines telefonischen Notrufs für Kinder und Jugendliche verpflichtet. Unsere professionellen Beraterinnen und Berater des 147 stehen jedes Jahr mit rund 42’000 jungen Menschen in Kontakt und unterstützen sie rund um die Uhr via Telefon, Whatsapp oder Mail bei Sorgen, Problemen oder psychischen Belastungen – kostenlos, anonym und vertraulich. Dasselbe gilt für die Elternberatung, bei denen sich Eltern und erwachsene Bezugspersonen an Pro Juventute wenden können.

Regelmässig kontaktieren Kinderund Jugendliche das 147 in Zusammenhang mit juristischen Fragen. Sei es, um sich nach ihren Rechten zu erkunden, weil sich ein rechtliches Verfahren abzeichnet, von dem sie betroffen sind, weil ein solches Verfahren bereits angestossen wurde oder weil sie sich in einer Massnahme befinden. Psychische Belastungssituationen können zudem ebenfalls durch rechtliche Sachverhalte mitverursacht und verstärkt werden, in denen die jungen Ratsuchenden involviert sind und bei denen ihre Verfahrensrechte wie zum Beispiel das Recht auf rechtliches Gehör verletzt werden. Auch Erwachsene kontaktieren die Elternberatung von Pro Juventute regelmässig mit Anfragen rund um rechtliche Verfahren und Massnahmen, die Minderjährige betreffen.

Als niederschwellige Erstanlaufstelle leisten die Beratenden von Pro Juventute erste psychosoziale Hilfe und triagieren bei Bedarf an lokale Fachstellen. Im Gegensatz zu einer juristischen Ombudsstelle kann Pro Juventute jedoch nicht durch eine Vermittlung zwischen dem Kind und der lokalen Fachperson beziehungsweise den Behörden ursächlich intervenieren. In solchen Situationen sind unsere Beratenden darauf angewiesen, die Ratsuchenden nahtlos an eine juristische Fachstelle triagieren zu können. Diese Aufgabe wird seit ihrer Gründung 2020 von der privatrechtlichen Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz wahrgenommen. Im Jahr 2023 hat Pro Juventute jede Woche eins bis zwei Personen an die privatrechtliche Ombudsstelle weitervermittelt, welche anschliessend die juristische Weiterbearbeitung der Anfragen übernommen hat.

Während die gemäss Vernehmlassungsvorlage angedachte Ombudsstelle respektive die Schweizerische Menschenrechtsinstitution SMRI in der Wissensvermittlung und Koordination durchaus eine positive Rolle spielen kann, ist sie nicht geeignet, schnelle und konkrete Unterstützung zu leisten, unmittelbar Unrecht zu verhindern und zeitnah die Persönlichkeitsrechte von Kindern sicherzustellen. Ohne eine Ombudsstelle im Sinne einer Anlaufstelle würde es für Kinder und Jugendliche bedeutend schwieriger werden, sich niederschwellig über Verfahren und Massnahmen, die sie betreffen, zu informieren und Unterstützung bei der Inanspruchnahme ihrer Rechte, die ihnen aufgrund ihrer Vulnerabilität zusteht, zu erhalten. 

Tätigkeiten und Profil einer Ombudsstelle

Damit eine Ombudsstelle für Kinderrechte im Sinne einer Anlaufstelle mit juristischen Beratungs- und Vermittlungstätigkeit ihre Aufgaben wirksam erfüllen kann, sind aus Sicht von Pro Juventute mehrere Voraussetzungen notwendig. Es braucht Fachpersonen mit juristischen Kenntnissen in diversen Rechtsgebieten sowie Kompetenzen in der Arbeit mit Kindern und Vermittlung. Als zentral erachten wir eine möglichst grosse Niederschwelligkeit und Erreichbarkeit, die Verfügbarkeit von Informationen in leichter Sprache, Mehrsprachigkeit, Übersetzungsleistungen und Webseiten mit kindgerechter Information.

Um ihre Verantwortung für die Sicherstellung der Kinderrechte im Einzelfall wahrzunehmen, braucht die Anlaufstelle zusätzliche Kompetenzen. Dazu zählen insbesondere ein Auskunfts- und Akteneinsichtsrecht und das Recht auf die Mandatierung einer unabhängigen Rechtsvertretung bei nicht-urteilsfähigen Kindern (sofern die zuständigen Behörden und Gerichte die Mandatierung nicht selbst vornehmen). Nicht zuletzt soll das Mandat der Ombudsstelle öffentlich-rechtlicher Natur sein und deren Unabhängigkeit garantieren. Die öffentliche Hand steht gegenüber Kindern in der Pflicht, die nötigen Rechtsgrundlagen zu erlassen und die Finanzierung der Ombudsstelle für Kinderrechte langfristig zu sichern.

Es braucht eine eidgenössische Lösung

Eine Ombudsstelle für Kinderrechte muss aus Sicht von Pro Juventute zwingend auf eidgenössischer Ebene angesiedelt sein. Dies ist nicht nur bezüglich Verfahren in der Zuständigkeit des Bundes unabdingbar, sondern bietet auch für Verfahren auf kommunaler und kantonaler Ebene zahlreiche Vorteile. Eine nationale Anlaufstelle kann erheblich effizienter und kostengünstiger betrieben werden und besser das notwendige Knowhow aufbauen. Darüber hinaus würden kantonale Lösungen häufig Doppelspurigkeiten und Schwierigkeiten bezüglich der Zuständigkeit mit sich bringen. Wo liegt die Zuständigkeit, wenn die Mutter in Bern lebt, der Vater in Zürich und das Kind sich in einem Time-out in St. Gallen befindet?

Die Verfassungs- und gesetzlichen Grundlagen sind für eine nationale Lösung vorhanden und entsprechen dem Subsidiaritätsprinzip. Eine nationale Anlaufstelle läuft auch nicht der Kompetenz- und Aufgabenverteilung zwischen Bund und Kantonen zuwider. Die Entscheide fällen weiterhin die zuständigen Behörden und Gerichte in den Kantonen und Gemeinden, die Anlaufstelle erleichtert den Kindern nur die Wahrnehmung ihrer Rechte und spricht Empfehlungen aus. Durch die Ratifizierung der UNO-Kinderrechtskonvention sind sämtliche Behörden zum Schutz der Kinderrechte verpflichtet, auch der Bund.

Der Verweis, stattdessen auf freiwilliger Basis kantonale und kommunale Angebote aufzubauen, überzeugt uns mit Blick auf die Chancengerechtigkeit nicht. Bereits die Bestandesaufnahme des BSV zeigte, dass die die Möglichkeit für Kinder, in teils schwierigen Situationen Unterstützung zu erhalten, schweizweit sehr unterschiedlich ausgestaltet ist und dem Anspruch auf Rechtsgleichheit nicht genüge. Die Delegation der Verantwortung an die Kantone hätte zur Folge, dass der Zugang zur Justiz vom Wohnort eines Kindes abhängt. Im Gegensatz dazu ermöglicht eine landesweite und niederschwellige Lösung allen Kindern gleichermassen den Zugang zur Justiz, was Gleichheit und Gerechtigkeit für alle Kinder unabhängig von ihrem Aufenthaltsort gewährleistet.

Ombudsstelle stärkt die Justiz und fördert die Resilienz von Kindern

Eine Anlaufstelle, an die sich Kinder niederschwellig wenden können, füllt eine empfindliche Lücke in unserem Rechtssystem: Sie sorgt dafür, dass Kinder in allen sie betreffenden Verfahren die nötigen Informationen erhalten, ihre Rechte erkennen und sich altersgerecht einbringen können. Weil Kinder den Zugang zum Rechtsweg oft nicht allein finden, brauchen sie dieses besondere Angebot. Indem die Ombudsstelle die Kindgerechtigkeit des Justizsystems fördert und das Qualitätsmanagement des Rechtssystems unterstützt, stärkt sie die Menschenrechte insgesamt. Die Anlaufstelle schützt nicht nur die Kinderrechte im Einzelfall, sondern macht anhand der von ihr bearbeiteten konkreten Situationen auch Schwachstellen sichtbar, die durch allgemeine Beratung und Expertise behoben werden können. Aus den praktischen Erfahrungen können Verbesserungen des Systems abgeleitet werden, die zu weniger Problemen für die Betroffenen und damit zu weniger Beschwerden und weniger Kosten führen.

Eine Justiz, die auf der Vulnerabilität von Kindern Rechnung trägt und ihre Rechte schützt, beeinflusst unmittelbar die psychische und körperliche Gesundheit betroffener Kinder sowie ihre Widerstandsfähigkeit. Dank einer Anlaufstelle mit Beratungs- und Vermittlungstätigkeiten kennen Kinder ihre Rechte und erleben, dass sie ernst genommen werden, was ihre Selbstwirksamkeit, ihre Widerstandsfähigkeit und damit ihre Resilienz stärkt. Sie lernen, Eigenverantwortung zu übernehmen.

Schlussfolgerung

Mit dem in der Vernehmlassungsvorlage vorgesehenen eingeschränkten Mandat einer Ombudsstelle für Kinderrechte sind aus Sicht von Pro Juventute höchstens eingeschränkte Fortschritte möglich, nicht aber die erhoffte Sicherstellung einer kindgerechten Justiz und die unmittelbare Verhinderung von Unrecht.

Basierend auf diesen Überlegungen lehnt die Stiftung Pro Juventute die vorliegende Änderung der Kinder- und Jugendförderungsverordnung ab. Es gilt, in einer neu ausgearbeiteten Botschaft die Rechtsgrundlagen für eine wirksame, unabhängige und ausreichend finanzierte Ombudsstelle für Kinderrechte im Sinn der Motion Noser und der obigen Ausführungen zu schaffen.
 

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