Beratungsstatistik bei 147.ch von Pro Juventute: Jeden 3. Tag läutet der Krisenalarm
Zwei Uhr nachts. Eine Nacht im Oktober 2020. «Ich weiss nicht mehr weiter, ich bin von zu Hause weggelaufen, sitze auf einer Bank beim Spielplatz. Ich will so nicht weiterleben», sagt die 14-jährige Melisa* der Beraterin von 147.ch. Sie beruhigt die Jugendliche und bietet schliesslich die Rettungsdienste auf, welche die stark suizidgefährdete Jugendliche in ein Spital bringt. Diese Art der Krisenintervention hat im letzten Jahr stark zugenommen. Waren es im Jahr 2019 57 Interventionen, so gab es im Jahr 2020 fast 100 Fälle, wo Pro Juventute bei einer Beratung Notfallorganisationen beiziehen musste.
Hohe psychische Belastung, mehr familiäre Konflikte
Der Corona-Report von Pro Juventute zeigt, dass die Auswirkungen der Pandemie auf Kinder und Jugendliche vielfältig sind. Die jüngste Generation ist insbesondere psychisch stark gefordert. Die Beratungen zu psychischer Gesundheit nahmen seit Ausbruch der Corona-Pandemie auch beim 147.ch stark zu. Während der sogenannten zweiten Welle von Oktober bis Dezember 2020 wandten sich 40 Prozent mehr Jugendliche mit Fragen zur psychischen Gesundheit ans Beratungsteam als im Vorjahreszeitraum. Zeitgleich melden Kinder- und Jugendpsychiatrien eine starke Auslastung und eine verstärkte Suizidalität.
Weniger Ausgang, Kontaktbeschränkungen und immer wieder geschlossene Freizeiteinrichtungen: Die Jugendlichen sitzen seit einem Jahr mehr zu Hause. Und da ist es nicht immer harmonisch. Zwischen März und Mai 2020 führen die Beraterinnen und Berater von 147 fast 70 Prozent mehr Beratungen zu häuslicher Gewalt durch. Auch die Polizei und weitere Beratungsstellen melden eine Zunahme bei häuslicher Gewalt während des ersten Lockdowns im Frühling 2020.
Weniger Chancengerechtigkeit, mehr Zukunftsangst
Schulschliessungen und Fernunterricht haben Auswirkungen auf den Lernerfolg und -fortschritt von Kindern und Jugendlichen. Während manche Schülerinnen und Schüler damit gut zurechtkommen, werden andere abgehängt. Insgesamt kamen jüngere Kinder mit Fernunterricht schlechter zurecht. Ältere Schülerinnen und Schüler sind eher in der Lage, ihren Lernfortschritt zu halten und Einschränkungen im Fernunterricht zu kompensieren.
Die «Digital Natives» fanden sich im Fernunterricht gut zurecht und profitierten vom Vorwissen aus ihrem digitalen Alltag. Es drohen aber Kinder und Jugendliche zurückzubleiben, denen die technische Infrastruktur oder Unterstützungsmöglichkeiten dafür zuhause fehlen. Bereits bestehende Ungleichheiten bei Bildung und Berufsaussichten werden durch die Krise verschärft.
Auch wenn die Situation auf dem Lehrstellenmarkt derzeit noch gut aussieht, beschäftigt die Frage der Berufswahl die Jugendlichen stark. 23 Prozent mehr Beratungen zur Berufswahl wurden beim 147 durchgeführt. Schnuppertage sind häufig nicht möglich oder nur gänzlich virtuell durchführbar, Weiterbeschäftigungen nach der Lehre ungewiss. Im Januar 2021 waren 17’000 Jugendliche arbeitslos. Ein Jahr zuvor waren es noch 5000 weniger.
Fehlende Freunde und neue Kompetenzen
Über das ganze Jahr gilt: Die Einschränkungen des Soziallebens machen den Jugendlichen besonders zu schaffen. Für Kinder und Jugendliche ist der Austausch mit Gleichaltrigen sehr wichtig für die Entwicklung. Im Austausch mit anderen definieren sie ihre Identität. Viele, die sich bei unseren Beraterinnen und Beratern melden, fürchten sich, ihre Freunde zu verlieren. Die Beratungen zu diesem Thema haben um 93 Prozent gegenüber dem Vorjahr zugenommen. Auch die Angst, keine neuen Freunde zu finden ist omnipräsent. Es gibt 28 Prozent mehr Beratungen dazu.
Trotz aller negativen Erfahrungen berichten Jugendliche auch von positiven Seiten. So lernen sie neue Kompetenzen, festigen ihre Krisenfähigkeit und zeigen, dass sie als Teil der Gesellschaft solidarisch sind gegenüber besonders gefährdeten Personen. Der Grossteil der Jugendlichen trägt die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie mit.
Den Pro Juventute Corona-Report finden Sie unter folgendem Link.