Entwicklung & Gesundheit

Bedürfnisorientiert erziehen: Was heisst das?

Sind Sie auch schon über den Begriff bedürfnisorientierte Erziehung gestolpert? Sollen Eltern alle Bedürfnisse der Kinder sofort erfüllen? Oder verhätscheln Eltern mit einem bedürfnisorientierten Erziehungsstil gar ihre Kinder? Erfahren Sie, was bedürfnisorientierte Erziehung ist.
Image
Sichere Bindung zwischen Vater und Tochter.

Die fünfjährige Emily trödelt beim Abendritual. Die Kleider hat sie zwar ausgezogen, doch statt ihren Pyjama anzuziehen und die Zähne zu putzen, spielt sie mit ihrem Teddy. Ihr Vater ist genervt, denn er möchte auch bald Feierabend haben. Er sieht aber Emilys Bedürfnis hinter ihrem Verhalten. Sie möchte gerne noch etwas spielen. Gleichzeitig merkt ihr Vater, dass sie müde ist. Obwohl Emily sich gut alleine bettfertig machen könnte, zieht er ihr den Pyjama an und putzt ihr die Zähne. Dabei zieht er den Teddy spielerisch mit ein.

Was ist bedürfnisorientierte Erziehung?

Unter bedürfnisorientierter Erziehung versteht man einen Erziehungsstil, bei dem die Kinder und ihre Bedürfnisse konsequent ernst genommen werden. Verfechter dieses Erziehungsstils gehen davon aus, dass durch das Erfüllen der Bedürfnisse die Bindung gestärkt wird – ein wichtiger Faktor für starke Kinder. Andere Begriffe dafür sind denn auch bindungsorientierte Erziehung und Attachment Parenting (attach = anhängen/anhaften). Begründet wurde der Erziehungsstil in den 1980er-Jahren durch den amerikanischen Kinderarzt William Sears.

Bedürfnisorientierte Erziehung setzt voraus, dass die Eltern in der Lage sind, feinfühlig auf die Signale der Kinder zu reagieren, und zwar sowohl auf die verbalen als auch auf die nonverbalen. Die Eltern verstehen die wiederkehrenden Bedürfnisse ihres Kindes und wissen, wie diese zu befriedigen. Kann ein Kind darauf vertrauen, dass seine Bedürfnisse adäquat gestillt werden, fühlt es sich geborgen. Es entwickelt eine sichere Bindung und lässt sich bei Angst oder Unsicherheit von einer Bezugsperson trösten und beruhigen. 

Eltern müssen für sich entscheiden, wie sie ihre Kinder erziehen möchten. Was für die eine Familie passt, ist nicht zwingend das Richtige für eine andere Familie.

Was ist bedürfnisorientierte Erziehung nicht?

Manchmal wird bedürfnisorientierte Erziehung damit gleichgesetzt, jeden Wunsch des Kindes sofort zu erfüllen. Darum geht es aber nicht. Es bedeutet vielmehr, die Bedürfnisse zu sehen und abzuwägen, wie wichtig sie sind. Und zwar alle Bedürfnisse, sowohl jene der Kinder als auch jene der Eltern. Denn nur wenn es der Mutter und dem Vater gut geht, können sie sich auch gut um ihre Kinder kümmern.

Wünsche sind zudem nicht mit Bedürfnissen gleichzusetzen. So ist es etwa kein Grundbedürfnis, ein weiteres Spielzeug zu bekommen; zu essen, wenn der Hunger plagt, hingegen schon.

Der 8-jährige Lukas bettelt im Supermarkt, weil er von seinem Taschengeld unbedingt ein neues Spielzeug kaufen möchte. Zwar hätte er den Betrag angespart. Doch weiss seine Mutter, dass das gewünschte Spielzeug nur im Moment attraktiv aussieht, Lukas aber schon bald das Interesse daran verlieren wird. Sie möchte nicht, dass er sein lang gespartes Geld dafür ausgibt und ist deshalb nicht bereit, das Geld vorzuschiessen. Sie sieht aber sein Bedürfnis, sich mit seinem eigenen Geld einen Wunsch zu erfüllen. Deshalb schlägt sie Lukas vor, bei nächster Gelegenheit gemeinsam in einen Spielzeugladen zu gehen und sich Zeit für die Auswahl zu nehmen.

Umgang mit Frust üben

Bedürfnisse aufschieben oder Wünsche nicht erfüllt zu bekommen, kann Frust auslösen. Doch Frust darf sein. Sich in Frustrationstoleranz zu üben ist sogar wichtig. Denn Kinder und Jugendliche werden in ihrem Leben immer wieder mit frustrierenden Situationen konfrontiert werden. Umso besser, wenn sie den Umgang damit schon früh lernen.

Eltern können ihr Kind unterstützen, indem sie es in seinem Frust begleiten und ihm helfen, seine Emotionen zu regulieren. Es sollte erfahren, dass sein Bedürfnis oder sein Wunsch gesehen und respektiert wird. Hilfreich ist auch, zu erklären, weshalb es nicht oder jetzt nicht möglich ist, dem zu entsprechen. 

Bedürfnisorientierte Erziehung geht davon aus, dass hinter jedem unerwünschten Verhalten ein unerfülltes Bedürfnis steckt oder ein Gefühl, mit dem das Kind nicht umzugehen weiss.

Stress: die Kehrseite der Medaille

Eine Studie hat sich der Frage gewidmet, ob Attachment Parenting den elterlichen Stresspegel erhöht oder nicht. Tatsächlich zeigte sich, dass durch diesen Erziehungsstil der Mental Load, also die mentale Arbeit für Organisation, Planung und Koordination in der Familie steigt. Die Folge ist erhöhter Stress. Der Druck, eine perfekte Mutter oder ein perfekter Vater zu sein, kann eine enorme psychische Belastung darstellen. 

Neben der intensiven Fürsorge für die Kinder müssen Eltern deshalb unbedingt die eigenen Bedürfnisse wahren. Keinesfalls sollte das Leben komplett auf die Bedürfnisse der Kinder bis hin zur Selbstaufgabe ausgerichtet werden. Hingegen gilt, dass je jünger das Kind ist, desto eher müssen Eltern ihre eigenen Bedürfnisse temporär zurückstellen.

Bis vor kurzem hat der 9 Monate alte Linus in seinem Zimmer durchgeschlafen. Doch nun wacht er Nacht für Nacht auf und weint. Die Eltern trösten ihn und bleiben bei ihm, bis er wieder eingeschlafen ist, was oftmals bis zu einer halben Stunde dauert. Sie sehen sein Bedürfnis nach Nähe und beschliessen, sein Babybett in ihr Elternzimmer zu zügeln. Auch dort wacht er ab und zu auf. Doch lässt er sich schnell wieder beruhigen und auch die Eltern können bald weiterschlafen.

Bedürfnisorientierte Erziehung bei Babys

Neugeborene können ihre Bedürfnisse noch nicht aufschieben. Bedürfnisorientierte Erziehung bedeutet bei Babys deshalb, rasch und adäquat auf ihre Bedürfnisse zu reagieren: Den Hunger am besten bei den ersten Hungerzeichen zu stillen und nicht erst, wenn das Baby lauthals schreit.  Auch dem Bedürfnis nach Nähe und Körperkontakt wird grosse Bedeutung zugeschrieben, wobei Eltern den besten Weg für sich finden müssen. So tragen viele Eltern ihr Kind im Tragetuch oder der Babytrage, um die Hände freizuhaben. Sie lassen das Baby im Beistellbett oder dem Familienbett statt im eigenen Zimmer schlafen, um in der Nacht möglich wenig aufstehen zu müssen. 

Bedürfnisorientierte Erziehung bei Kindern und Jugendlichen

Mit zunehmender Entwicklung können Kinder besser auf die Erfüllung ihrer Bedürfnisse warten. Es kommen aber neue Bedürfnisse hinzu. Ab der Autonomie- respektive Trotzphase wächst das Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Kinder möchten zunehmend selbstständig werden und brauchen Freiräume. Jugendliche möchten sich abnabeln, trotzdem brauchen auch sie die Sicherheit des Elternhauses. Das Bedürfnis nach körperlicher Nähe zu den Eltern, das bei Kleinkindern noch sehr stark ist, wird zunehmend kleiner. Das Bedürfnis nach emotionaler Zuwendung jedoch bleibt.

Was, wenn sich Kinder nicht so verhalten wie erwünscht?

Bedürfnisorientierte Erziehung geht davon aus, dass hinter jedem unerwünschten Verhalten ein unerfülltes Bedürfnis steckt oder ein Gefühl, mit dem das Kind nicht umzugehen weiss. Wird das Kind dafür bestraft oder kritisiert, wird nur das Verhalten bewertet. Das Kind lernt zwar, welche Verhaltensweisen erwünscht sind. Es fühlt sich aber unverstanden, ist womöglich sogar wütend oder traurig.

In der bedürfnisorientierten Erziehung sind die Erwachsenen gefordert, hinter das Verhalten zu blicken und zu verstehen, was das Kind braucht. Statt zu schimpfen und zu strafen sollen Eltern einfühlsam sein und gemeinsam nach Lösungen suchen. Zwar braucht das Geduld, Zeit und oft auch starke Nerven. Doch wer das Kind in seiner emotionalen Not und seinen Bedürfnissen sieht, stärkt die Bindung und kann ihm helfen, alternative Strategien zum unerwünschten Verhalten zu erlernen, was sich langfristig auszahlen wird.

Die 11-jährige Anna kommt vom Handball-Training nach Hause und greift nach einer Tafel Schokolade. Die Mutter mag das nicht, denn in einer Stunde soll es Abendessen geben. Doch sie sieht das Bedürfnis nach Essen. Anna hat sich körperlich angestrengt und hat Hunger. Sie schlägt Anna vor, dass sie die Schokolade weglegt bis nach dem Abendessen. Als Kompromiss bereiten sie einen kleinen Apéro vor, um die Zeit zu überbrücken.

Eltern müssen nicht perfekt sein

Der bedürfnisorientierte Erziehungsstil vereint einige gute Elemente für eine gesunde kindliche Entwicklung. Trotzdem müssen Eltern für sich entscheiden, wie sie ihre Kinder erziehen möchten. Was für die eine Familie passt, ist nicht zwingend das Richtige für eine andere Familie. Und selbst wenn sich Eltern für den bedürfnisorientierten Erziehungsstil entschieden haben, beutet das nicht, dass dies im Alltag immer gelingt.

Viele heutige Eltern wurden anders erzogen. Sich von verinnerlichten Erziehungsmustern zu lösen, ist nicht ganz einfach, auch wenn man es selbst anders machen möchte. Keinesfalls sollten Eltern sich daher Vorwürfe machen, wenn sie in stressigen Situationen anders reagieren als beabsichtigt. Kinder verzeihen es, wenn Eltern mal nicht vorbildlich reagieren.

Tipps für Eltern

  • Reflektieren Sie über Ihre eigenen Erziehungsmuster. In welchen Situationen reagieren Sie so, wie Sie es sich wünschen?
  • Was hat Sie getriggert, dass Sie doch lauter als beabsichtigt wurden?
  • Berücksichtigen Sie die Individualität jedes Kindes. Je nach Charakter und Temperament hat es andere Bedürfnisse.
  • Achten Sie auf Ihre eigenen Bedürfnisse. Sorgen Sie für ausreichend Zeit für Erholung und eigene Interessen.
  • Haben Sie geschimpft oder bestraft und bereuen es? Entschuldigen Sie sich bei Ihrem Kind und sagen Sie ihm, dass auch Erwachsene manchmal nicht perfekt sind.
Jetzt spenden